Der Roman «Und alle so still» hat mir dabei geholfen, eine unangenehme Fahrt im Nachtzug von Lecce nach Milano gelassener zu nehmen. Die Geschichte malt aus, was passieren würde, wenn Frauen plötzlich in stillem Protest all ihre Tätigkeiten niederlegen würden.
Wir stehen am Bahnschalter in Lecce, Apulien, an. Die Stimmung ist aufgekratzt: Die italienischen Staatsbahnen Trenitalia sowie die lombardische Regionalgesellschaft Trenord haben für den Tag Streiks angekündigt. Alle lechzen nach Informationen und Klarheit. Wir probieren über die knarzende Gegensprechanlage so viele Informationen von der Person hinter dem Schalter zu kriegen wie möglich. Unsere Italienischkenntnisse und die Tonqualität machen es nicht einfach. So viel ist klar: Unsere Nachtzug-Verbindung nach Milano Centrale ist nicht garantiert. Es wird uns empfohlen, unsere Billetts gegen eines für den früheren Nachtzug umzutauschen – dieser ist garantiert. Nur: Anstatt im Schlafwagen würden wir dann im Sitzwagen fahren. Nach langem Hin- und Her entscheiden wir uns dazu, auf den garantierten Zug zu wechseln. Überall im Bahnhof und später im Zug treffen wir auf Menschen, die ebenfalls Schweizer:innen-Deutsch sprechen und denen es ähnlich ergangen ist.
Ungemütliche Fahrt im Sitzwagen
Die Fahrt im normalen Vierer-Sitz-Abteil ohne Einrichtung für Nachtfahrten ist ungemütlich. Wir schlagen uns die Nacht mit Filmen, Podcasts und Dösen um die Ohren, während draussen namhafte Städte wie Foggia, Ancona oder Bologna vorbeiziehen – und immer wieder die Adria. Meine langen Beine schmerzen, weil ich sie die ganze Nacht über angewinkelt halten muss (unser Viererabteil ist ab Mitternacht voll), die Tür zum Waggon schliesst nicht richtig, es ist laut und die Luft stickig. Wir könnten uns nun aufregen, dass wir sitzen statt liegen, im Pulk statt zu zweit; dass es kein schöner Abschluss unserer Herbstferien ist.
Wenn die Frauen nichts mehr tun
Ich probiere es mit Haltung zu nehmen, mich nicht gegen das Schicksal aufzulehnen. Dabei hilft mir das Buch «Und alle so still» von Mareike Fallwickl (Rohwolt, 2024), welches ich während den Ferien gelesen habe. Fallwickl entwickelt darin die Idee, was passieren würde, wenn Frauen von heute auf morgen ihre Arbeit und alle anderen Tätigkeiten in einem stillen Protest niederlegen würden. Wie langsam erdrückende Efeuranken hat sich das Buch beim Lesen um mein Herz gewickelt. Ich fühlte mich ertappt als einer, der ohne es direkt zu wollen von den patriarchalen Strukturen nach wie vor profitiert. Ich sehe im Buch in die Gedankenwelten einer jungen Frau, welche als Influencerin andauernder Bewertung ausgesetzt ist. Sie beginnt, ihren Körper nicht mehr richtig zu spüren, dieser scheint sich geradezu aufzulösen. Ich sehe in die unerträgliche Hektik und Arbeitslast eines Spitalalltags, wo Menschlichkeit dem Profit untergeordnet worden ist. «Du kannst ja gehen, wenn es dir nicht passt», ist die Losung des Managements. Ich sehe ins Leben eines Kindes von Migrant:innen und Arbeiter:innen, welches am Rande der Gesellschaft lebt und von ihr ausgebeutet wird; auf subtile Weise über temporäre Jobs ohne jegliche Absicherung. Das alles ist bis zur Unerträglichkeit überspitzt im Buch, vieles wirkt sehr klischeehaft. Und doch oder gerade deswegen: Es hat viel ausgelöst bei mir. Was ist meine Rolle als Mann? Profitiere ich ebenfalls vom maroden Gesundheitssystem?
Das System wendet Gewalt an
Die Frauen im Buch beginnen einen stummen Protest, legen sich einfach vor einem Spital oder anderswo auf die Strasse. Sie tun dies ohne Plakate, ohne Gesänge, einfach in stiller Erschöpfung. Die Folgen lassen nicht lange auf sich warten: Die Gesundheitsversorgung bricht zusammen, es gibt viele Unfälle bei Männern, weil sie zuhause alles selber machen müssen, Geschäfte schliessen, die Post kommt nicht mehr an. Es braut sich eine Stimmung zusammen, welche an Bürger:innen-Kriege oder Naturkatastrophen erinnert. Die Reaktion von Männern und Staat lässt nicht lange auf sich warten: Sie wollen in bekannter Manier die Frauen mit Gewalt zum Weitermachen zwingen. Die Polizei sperrt Protestierende ins Gefängnis, was das System weiter zum Überlaufen bringt. Männer rotten sich in Banden zusammen und wollen ihre davongelaufenen Frauen zur Rückkehr zwingen.
Zu Fuss ging’s 20 mal solange
Es geht sehr viel um Privilegien und Verfügbarkeit. Es ist ein Privileg, dass ich in die Ferien und mit einem Nachtzug durch ganz Italien fahren kann. Ich bin mir Verfügbarkeit gewohnt: Es hat genügend Lebensmittel, die Züge fahren. Dabei ist es eigentlich ein Wunder, dass ich mit dem Zug in rund 12 Stunden ungefähr 1000 Kilometer durch ganz Italien fahren kann und meist pünktlich ankomme. Google Maps sagt mir, dass ich zu Fuss von Lecce nach Milano auf dem schnellsten Weg 233 Stunden brauchen würde! Ich halte all dies in Kopf und Herzen, als ich mich durch die Nacht quäle und nicht weiss, in welcher Haltung ich noch zu schlafen versuchen soll.
Streik für bessere Arbeitsbedingungen
Zuhause lese ich in der Zeitung, dass die Gewerkschaftsverbände zum Streik aufgerufen hatten, um zu fordern, dass die Kollektivverträge erneuert werden. Ebenfalls protestierten die Gewerkschaften gegen «unzureichende Gehälter und die ständige Gefahr von Angriffen» auf das Personal im öffentlichen Verkehr. Ich kenne die Bahn-Situation in Italien zu wenig gut, um hier eine tiefgreifende Analyse zu machen. Dass sich die Leute für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen, kann ich grundsätzlich gut nachvollziehen. Derweil geht die Schweiz nicht mit gutem Beispiel voran. Kürzlich ist bekannt geworden, dass der Bundesrat die geplanten Beiträge zur Förderung von Nachtzügen nicht ausgeben will.
Unser Nachtzug ist übrigens sogar ein paar Minuten früher als geplant in Milano angekommen. Und wie so oft in solchen Situationen: Wir kamen viel leichter mit verschiedenen Menschen ins Gespräch. Die Stimmung kam auf: «Wir haben das gemeinsam geschafft!»