Wo die Gletscher schmelzen, entsteht neues Land

Der Traum vom Land, auf dem noch kein Mensch stand: Dafür brauchen wir nicht in ferne Länder zu reisen, es entsteht vor unserer Haustür. Wo die Gletscher schmelzen, entstehen sogenannte Gletschervorfelder, faszinierende Landschaften voller Vielfalt und Dynamik. Durch menschliche Eingriffe könnten sie bald wieder verloren gehen. Wenn wir sie als Allmende sehen, könnten wir sie als gute Vorfahr:innen für kommende Generationen erhalten.

Ich weiss nicht mehr sicher, ob es im Geographie-Buch oder sonstwo war. Auf jeden Fall kann ich mich noch gut daran erinnern, dass ich es als Jugendlicher geliebt habe, Weltkarten mit der Bevölkerungsdichte anzuschauen. Ich habe dann Orte mit möglichst geringer Bevölkerungsdichte wie die Wüste Gobi gesucht und mir vorgestellt, wie ich diese Landschaften als einer der Ersten entdecke. Auf jeden Fall habe ich es nicht zum grossen Entdecker gebracht und die Gedankenspielereien von damals lösten sich in neuen Ideen auf. Wieder öfters daran erinnert wurde ich, als ich 2016 bei Mountain Wilderness Schweiz als Projektleiter Wildnis startete. Bei Wildnis geht es um Räume ohne Infrastruktur, in denen sich die Natur frei entwickeln kann. Als wir in einer Studie die verbliebenen Wildnis-Inseln der Schweiz modellierten, fanden wir diese vor allem im vergletscherten Hochgebirge. Doch was entsteht, wenn die Gletscher aufgrund der Klimaerhitzung schwinden? Viele würden sagen: Wüsten aus Fels und Geröll. Ich sehe es vielmehr wie der Glarner Geologe Tobias Ibele: Es entsteht neues Land!

Kurzfilm «Wireless Wilderness» von Mountain Wilderness Schweiz. Der Geologe Tobias Ibele tritt ab Minute 01:47 auf.

Bäche mäandrieren und Libellen schwirren

Quasi direkt vor unserer Haustür legt das Eis Flächen frei, auf die noch kein Mensch einen Fuss gesetzt hat. Ist das nicht ein faszinierender Gedanke? Die Räume zwischen dem letzten Hochstand der Gletscher um 1850 und dem Ende der aktuellen Gletscherzunge nennen wir Gletschervorfelder. Diese wachsen aufgrund der Gletscherschmelze rasant. Und: Sie sind alles andere als eintönig. Wenn die Gletscher schwinden, tritt eine faszinierende Vielfalt an Lebensräumen an ihre Stelle. Da mäandrieren Bäche, schwirren Libellen über Flachmoore und etablieren sich seltene Pflanzengesellschaften. Diese Vielfalt an Lebensräumen entsteht aufgrund der grossen Dynamik von Eis und Wasser, die in den Gletschervorfeldern den Fels freilegen und Geröll, Steine und Sand stetig umlagern. Seen bilden sich und verlanden wieder; hier lagern sich Lehm und Sand ab, dort wird eine Kiesbank immer wieder von Wasser überschwemmt und bietet spezialisierten Arten Lebensraum.

Wo einst Gletscher waren, entstehen faszinierende, dynamische Lebensräume. Hier der Blick auf ein Flachmoor im Gletschervorfeld des Langgletschers im Lötschental.

Diese Räume müssen nicht einmal in unerreichbaren Höhen liegen. Ein berühmtes, gut erreichbares Beispiel für ein Gletschervorfeld ist dasjenige des Morteratschgletschers. Es ist bequem mit der Eisenbahn und einem Fussmarsch erreichbar. Vor ein paar Wochen war ich mit einer Exkursion auf dem Gletschervorfeld des Langgletschers im Lötschental. Die letzte Postautohaltestelle ist keine Dreiviertelstunde zu Fuss entfernt.

Was machen wir mit dem neuen Land?

Ernüchtert stelle ich fest, dass wir mit diesen faszinierenden Lebensräumen leider nicht sehr kreativ umgehen. Wir legen Stege über die Wildbäche und verlängern Wege, bauen Skipisten, Klettersteige und Bergunterkünfte hinein. Wir fassen das Wasser und wollen seinen wilden Lauf zähmen. Staumauern sollen uns den Strom dafür liefern, dass die fetten Jahre weitergehen können. Ich stehe zu 100 Prozent hinter der Energiewende. Von mir aus hätten wir diese bereits vor Jahren schaffen sollen. Doch fallen uns dazu keine anderen Lösungen ein? Wollen wir die letzten frei fliessenden Gewässer der Schweiz mit einer Technologie zerstören, welche sich in den letzten 100 Jahren vom Grundsatz her nicht gross verändert hat?

Schützen und sanft nutzen

Ich schlage zwei sich ergänzende Vorgehensweisen vor, wie wir mit Gletschervorfeldern umgehen können: Einen Grossteil schützen wir mit strengsten Gesetzen. Hier hat die Dynamik der Natur das Sagen, es darf entstehen, was entsteht. Es sind Rückzugsinseln – Sanctuaries – für die Natur und für Menschen, welche diese bewusst und achtsam erfahren möchten. Gleichzeitig sind es Geschenke an künftige Generationen. Wir überlassen ihnen ein Stück Land, welches voller Potenzial ist. Ganz im Sinne des britischen Philosophen Roman Krznaric, der uns einlädt, bei jeder Entscheidung zu fragen: Bin ich ein guter Vorfahre?

Bin ich ein guter Vorfahre für zukünftige Generationen, wenn ich es zulasse, dass Landschaften wie das Gletschervorfeld am Langgletscher ausgebeutet und für das Weiterfeiern unserer Party genutzt werden?

An den wenigen Orten, wo es aus irgendeinem Grund Eingriffe braucht, machen wir diese so sanft als möglich. Idealerweise sind sie so gestaltet, dass sowohl Mensch als auch Natur von ihnen profitieren. Es gibt gerade aus der Landwirtschaft wunderbare Beispiele, wie Permakultur oder die traditionelle Kulturlandschaft, welche im Miteinander mit der Natur die Artenvielfalt sogar erhöhen können. Wir haben Top-Hochschulen in der Schweiz mit Ingenieur:innen, welche zu den besten der Welt gehören. Ich bin überzeugt, dass sie kreativere Lösungen finden können, als einfach riesige Staudämme hochzuziehen. Inspiriert hat mich dabei ein Artikel von Catherine Duttweiler im «Das Magazin». Studierende am ETH-Studio Vogt hatten die Idee, anstatt beim Gornergletscher eine Staumauer zu bauen, wie dies der im Juni verabschiedete Mantelerlass vorsieht, einfach den natürlich entstehenden Gornersee fürs Gewinnen von Energie zu nutzen. Das ist erst eine Idee, die Stromausbeutung wäre um ein Vielfaches geringer – und doch: für mich geht es in die richtige Richtung! Vielleicht könnten wir Gletschervorfelder als Gemeingut, als Allmende betrachten, welche wir als Gesellschaft gemeinsam verwalten, losgelöst von den Märkten. Der japanische Philosoph Kohei Saito fordert dies in einem Artikel in der NZZ für öffentliche Güter wie Wasser, Strom oder Bildung.

Vielfalt explodiert nach Renaturierung der Rhone

Ein Beispiel aus einem anderen, aber recht ähnlichen Bereich, ist die Renaturierung der Rohne bei Pfyn. Anstatt kosmetische Verbesserungen zu machen, wurde dem Fluss wieder grosszügig Platz eingeräumt. Dadurch haben die Populationen der stark gefährdeten Flussuferläufer und Flussregenpfeifer wieder zugenommen. Gleichzeitig ist die Rhone attraktiv für Wassersport und die Baubranche kann Sedimente entnehmen wie eh und je. Es ist ein Gewinn für alle!

Wer Naturschutz und Energiewende – also Klimaschutz – in Einklang bringen will, stösst unweigerlich auf das Thema Wachstum. Die Effizienz wird im Zusammenhang mit der Energiewende aus meiner Sicht stiefmütterlich behandelt, die Suffizienz – das bewusste Nicht-Nutzen – getraut sich kaum jemand anzusprechen. Wenn wir Raum für Biodiversität schaffen und Wildnis erhalten wollen, führt kein Weg um eine neue Bescheidenheit herum. Ich bin bereit, für den Erhalt faszinierender Ökotope wie der Gletschervorfelder auf einen Teil meines Luxus’ zu verzichten. Oder ist es überhaupt ein Verzicht und nicht viel mehr ein Gewinn?

Nutzen wir diese Gelegenheit und geben dem neuen Land, was ihm gebührt: Respekt und die Möglichkeit, sich selbst zu entfalten.

Inspiration für diesen Artikel

Sebastian

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